Lebensweg - oder: Der Pilger: Baustahl, Fragment einer alten Schleifmaschine (2012)         

Die Sprache der Dinge

  Die Sprache der Dinge ist die älteste Sprache der Welt. Dinge waren immer da. Die Dinge freilich, die zu mir sprechen, sind meist nur ein paar Jahrzehnte alt: Klumpen von Beton, aus denen rostige Armierungseisen ragen, Fragmente eines Kanalisationsrohrs aus Gusseisen, Trümmer von Werkzeugen. Solche Dinge liegen auf Schutthalden, manchmal am Strassenrand, irgendwo. Die Menschen gehen achtlos vorbei, wenden vielleicht angewidert den Blick ab und schimpfen darüber, dass dieser Dreck noch nicht weggeräumt wurde - und halten mich für ein wenig verrückt oder mindestens für einen verschrobenen Alten, wenn sie sehen, wie ich solche Dinge nachdenklich betrachte, womöglich das eine oder das andere Teil aus dem Haufen ziehe und mitnehme.

Vor einiger Zeit geschah dieses: Für den Bau der über Schweizer Territorium führenden "Zollfreistrasse" von Lörrach nach Weil waren verschiedene Bauwerke abgerissen worden. Betontrümmer und verbogene Armierungseisen türmten sich neben der Baustelle – ein Fundberg für mich. An einem Samstag kletterte ich dort herum, obwohl das Betreten des Geländes natürlich verboten war. Hier sprang mir eine Form ins Auge, dort erregte die Krümmung eines von der Gewalt der Abrissbirne verformten Eisens meine Phantasie. Schon hatte ich mir ein paar Stücke zurechtgelegt, als plötzlich eine Stimme hinter meinem Rücken erscholl:

"He, was machst du da?"

Das Gefühl, bei verbotenem Tun ertappt zu sein, verschlug mir die Sprache. Ich suchte nach einer verständlichen Erklärung, starrte den Mann bloss an. Er trug keine Arbeitskleidung, keine Uniform, schien aber dennoch in einer offiziellen Funktion hier zu sein. Ich erwartete eine barsche Wegweisung. Aber um seine dunklen, unter buschigen Brauen liegenden Augen spielte der Anflug eines Lächelns:

"Das ist doch nur Schrott, das kannst du nicht brauchen. Komm, ich hab da hinter der Baracke noch neue Eisen. Du kannst davon haben."

Das war ein Angebot, das sicher jeden Freizeit-Maurer auf der Suche nach Armierungsstählen für das Fundament seines Gartenhäuschens entzückt hätte. Nur bin ich kein Freizeit-Maurer, suchte auch nicht nach billigem Material für ein Fundament.

"Danke", sagte ich, "aber ich brauche gerade solche verbogenen Dinger. Ich will ein Kunstwerk daraus machen."

Das Wort "Kunstwerk" geht mir ein wenig schwer über die Lippen. Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ich da gelegentlich zusammenfüge, die Bezeichnung "Kunst" verdient. Zu Freunden, denen ich meine Arbeiten zeige, spreche ich von "Experimenten" oder "Assemblagen", allenfalls, und schon das scheint mir kühn, von "Objekten". Aber wie erkläre ich das einem Bauarbeiter, der sich offenbar einen kleinen Zusatzverdienst dadurch verschaffen muss, dass er das Areal der Baustelle übers Wochenende bewacht?

"Kunst?" Der Mann scheint über das Wort nachzudenken, es in seinem Kopf hin und her zu wenden. Schliesslich lacht er: "Kunst – in Ordnung – und viel Spass dabei."

Er geht weg.

"Danke", rufe ich ihm nach, "und einen schönen Tag noch!"

Er dreht sich nicht um, hebt nur die Arme bis auf Schulterhöhe und lässt sie wieder sinken.

Eine liebenswürdige Galeristin bezeichnete meine Arbeiten in ihrer Ausstellungsvorschau gar als "Skulpturen", überhörte meinen Einwand, eine Skulptur sei doch ein mit Hammer und Meissel geschaffenes Kustwerk. Mag sein, die schöne Benennung trug dazu bei, dass am Ende der Ausstellung fast ein Drittel meiner Arbeiten einen Käufer gefunden hatte.

Wie dem auch sei - ich finde und erfinde immer wieder Neues.